PROLOG DIE HOCHZEIT
1
Mein Name ist Nick Pellisante, und für mich begann alles eines Sommers draußen auf Long Island, bei der »Hochzeit der Hochzeiten«. Ich beobachtete die Braut, die eine sich zwischen den Tischen windende Schlange aus Conga-Tänzern anführte. Eine Conga-Schlange! Ich hasste Conga-Schlangen.
Ich sollte erwähnen, dass ich die Szene durch ein starkes Fernglas beobachtete. Ich folgte der Braut, die ihre breite, spitzenbesetzte Schleppe in alle Richtungen schmiss, ein Glas Rotwein umkippte und versuchte, einen mondgesichtigen Verwandten, der einen Teller gefüllter Muscheln verschlang, zum Mitmachen zu animieren. Währenddessen tat der freundlich grinsende Bräutigam alles, um sich auf der überfüllten Autobahn nicht abhängen zu lassen.
Was für ein glückliches Paar, dachte ich und stellte mir ihre Ehe in zehn Jahren vor. Was für ein Glück für mich, dass ich nur Zuschauer war. Das hier gehörte zum Job.
Als leitender Special Agent der Abteilung C-10, der Abteilung für organisiertes Verbrechen beim FBI von New York, überwachte ich die Hochzeit eines Mafiosos im schicken South Fork Club in Montauk. Jeder, der hier etwas auf sich hielt, war anwesend in der Annahme, man wäre unter seinesgleichen.
Alle außer dem einen Mann, nach dem ich
eigentlich suchte. Nach dem Boss. Dem Capo di
tutti i capi. Dominic Cavello. Man nannte ihn den Elektriker,
weil er seine Karriere in diesem Gewerbe begonnen hatte. In New
Jersey, mit Betrug im Baugewerbe. Der Kerl war böse,
Terrorstufe-rot-böse. Und ich musste einen Haftbefehl gegen ihn
zusammenbasteln wegen Mord, Erpressung, Beeinflussung von
Gewerkschaften und Finanzierung von Drogengeschäften.
Einige meiner Kumpel beim FBI hatten gesagt, Cavello sei bereits in
Sizilien und würde uns eine Nase drehen. Anderen Gerüchten zufolge
sei er in der Dominikanischen Republik in seinem eigenen Kurort
oder in Costa Rica, in den Vereinigten Arabischen Emiraten oder
sogar in Moskau untergetaucht.
Doch ich hatte so eine Ahnung, dass er hier war, irgendwo in dieser
lärmenden Menge auf der wundervollen Terrasse des South Folk Club.
Sein Ego war viel zu groß. Seit drei Jahren war ich hinter ihm her,
was er wahrscheinlich wusste. Aber nichts, nicht einmal die
Bundesregierung, würde Dominic Cavello davon abhalten, bei der
Hochzeit seiner Lieblingsnichte mitzufeiern.
»Cannoli eins, hier ist Cannoli zwei«, knatterte eine Stimme in
meinem Ohrhörer.
Es war Special Agent Manny Oliva, den ich unten auf den Dünen mit
Ed Sinclair postiert hatte. Manny war in einer Sozialwohnung in
Newark aufgewachsen, dann hatte er alles darangesetzt, seinen
Juraabschluss zu machen. Er kam frisch aus Quantico, als er meiner
C-10-Einheit zugeteilt worden war.
»Irgendwas auf dem Radar, Nick? Hier gibt’s nichts außer Sand und
Möwen.«
»Ja«, meinte ich und servierte ihm, was ich sah. »Eher ruhig hier.
Eine kleine Lasagne mit heißen Würstchen, ein paar gefüllte
Garnelen und Parmesan.«
»Hör auf! Du machst mich total hungrig, Nicky Smiles.«
Nicky Smiles. So nannten mich die Jungs in der Einheit, zu denen
ich ein besseres Verhältnis hatte. Vielleicht weil ich mit einem
ziemlich netten Grinsen gesegnet war. Doch der Grund war wohl eher,
dass ich in Bay Ridge mit einem Haufen dieser Mafiatypen
aufgewachsen war und mein Name auf einem Vokal endete. Außerdem
wusste ich mehr über die Cosa Nostra als irgendjemand sonst beim
FBI, und ich fühlte mich verletzt durch das, was dieser Wichser dem
Ruf aller Italoamerikaner angetan hatte – einschließlich meiner
eigenen Familie, meinen Freunden, die gesetzestreuer nicht sein
konnten, und, natürlich, mir.
Also, wo steckst du, du Hurensohn? Du bist doch da drin, Cavello,
oder nicht? Durch mein Fernglas musterte ich die Tänzer.
Die Prozession zog am Rand der Terrasse entlang, vorbei an all den
besoffenen Mafiosi in Smoking mit lila Hemden und ihren Ehefrauen
mit hochgesteckten Haaren und prall gefüllten Kleidern. Die Braut
machte sich an einen Tisch mit Senioren heran, padrones mit Westernkrawatten, die am Espresso
nippten und alte Geschichten aufwärmten. Eins oder zwei der
Gesichter kamen mir bekannt vor.
In dem Moment beging die Braut den Fehler.
Sie wählte einen der alten Männer aus, beugte sich hinunter und
küsste ihn auf die Wange. Der Mann mit angehender Glatze saß in
einem Rollstuhl, die Hände im Schoß. Er wirkte schwach und neben
der Spur, als erholte er sich von einer Krankheit, vielleicht von
einem Schlaganfall. Er trug eine dunkle Brille und hatte keine
Augenbrauen, wie Onkel Junior in Die
Sopranos.
Ich stand auf und richtete das Fernglas auf ihn. Die Braut fasste
ihn bei den Händen und versuchte, ihn hochzuziehen. Der Kerl sah
aus, als könnte er nicht im Stehen pinkeln, und schaffte es kaum,
die Arme um sie zu legen, geschweige denn aufzustehen und zu
tanzen.
Dann blieb mein Herz plötzlich stehen.
Du arroganter Hurensohn! Jetzt hab ich dich!
»Tom, Robin, dieser alte Kauz mit der dicken Brille. Die Braut hat
ihm gerade einen Kuss gegeben.«
»Okay«, meldete sich Tom Roach. Er saß in einem Van auf dem
Parkplatz und beobachtete die Bilder, die er von den im Club
versteckten Kameras empfing. »Ich habe ihn. Wo ist das
Problem?«
Ich trat einen Schritt vor und holte den Alten mit dem Fernglas
näher heran.
»Kein Problem. Das ist Dominic Cavello!«
»Zugriff!«, bellte ich in das an meinem Hemdkragen befestigte
Mikrofon. »Ziel ist ein glatzköpfiger Mann mit dunkler Brille. Er
sitzt in einem Rollstuhl auf der linken Seite der Terrasse. Es ist
Cavello! Er gilt als gefährlich und wird bewaffneten Widerstand
leisten.«
Von meiner Position aus hatte ich einen erstklassigen Blick auf
das, was in den nächsten Minuten passierte. Tom Roach und Robin
Hammill sprangen aus dem Van auf den Parkplatz und rannten zum
Eingang.
Wir hatten genügend Leute, überall wartete Verstärkung – sogar
Agenten, die innen eine Schau als Barmänner und Kellner abzogen.
Ein paar hundert Meter entfernt, draußen auf dem Meer, wartete ein
Boot der Küstenwache, bei Bedarf konnte ein Apache-Hubschrauber
mobilisiert werden.
Nicht einmal Dominic Cavello würde die Hochzeit der Tochter seines
Bruders in einen Kugelhagel ausarten lassen, oder?
Falsch.
Ein paar Ganoven in hellblauen Smokings machten gerade eine
Zigarettenpause, als sie sahen, dass mein Team aus dem Wagen
sprang. Einer rannte gleich wieder hinein, während der andere den
Zugang blockierte. »Tut mir leid, das ist eine Privatveranstaltung
…«
Tom Roach zeigte ihm seine Dienstmarke. »Jetzt ist sie für die
Allgemeinheit geöffnet. FBI.«
Ich schwenkte mein Fernglas zu dem anderen Mafioso, der nach hinten
zur Hochzeitsgesellschaft auf die Terrasse eilte, direkt zu dem
gelähmten alten Mann im Rollstuhl.
Ich hatte Recht! Das war eindeutig Cavello! Aber unsere Deckung war
flöten.
»Wir sind aufgeflogen!«, rief ich mit Blick auf die Terrasse. »Alle
arbeiten sich an Cavello ran! Manny, du bleibst mit Ed, wo du bist,
und deckst die Dünen. Taylor!«, rief ich den Agenten, der einen
Kellner gab, »warte auf Toms Mannschaft.«
Cavello sprang aus dem Rollstuhl und war auf wundersame Weise
plötzlich der gesündeste Mann der Welt. Steve Taylor stellte sein
Tablett ab und zog seine Waffe unter der Jacke hervor. »FBI!«, rief
er.
Ich hörte einen Schuss, und Taylor ging zu Boden, ohne wieder
aufzustehen.
Das Chaos brach aus. Gäste wuselten über die Terrasse hin und her,
einige kreischten, andere krochen unter die Tische. Ein paar der
bekanntesten Bandenbosse huschten zu den Ausgängen.
Ich richtete mein Fernglas wieder auf Cavello. Er schlich,
vornübergebeugt und immer noch verkleidet, durch die Menge Richtung
Treppe, die hinunter zum Strand führte.
Ich zog meine Glock heraus, sprang von der Felsbank, auf der ich
gekauert hatte, und rannte die Uferstraße entlang zu dem mit weißen
Brettern verschalten Clubhaus.
Dort machte ich kurz Halt, bevor ich durch den Vordereingang des
Restaurants nach hinten zur Terrasse hechtete. Cavello hatte ich
immer noch im Blick. Er hatte die dunkle Brille abgesetzt, schob
eine alte Frau aus dem Weg und setzte über einen Holzzaun. Von dort
rannte er zu den Dünen.
Wir hatten ihn!
»Manny, Ed, er kommt in eure Richtung!«
Mir war klar, wohin Cavello fliehen wollte. Er versuchte, oben an
der Spitze einen Hubschrauber zu erreichen. Offensichtlich
seinen Hubschrauber. Ich drängte durch die
Menge, schob Menschen aus dem Weg. Am Rand der Terrasse blickte ich
zum Strand hinunter.
Cavello stolperte durch den Sand und über die grasigen Dünen. Dann
duckte er sich hinter einer hohen Düne, wo ich ihn aus den Augen
verlor.
»Manny«, rief ich ins Mikrofon, »er müsste jede Sekunde bei euch
sein.«
»Ich habe ihn, Nick«, kreischte Manny.
»FBI!«, hörte ich Manny in meinem Ohrhörer.
Dann Schüsse. Zwei schnell hintereinander, gefolgt von vier oder
fünf weiteren.
Mein Blut gefror zu Eis. Oh, Gott. Ich sprang über den Zaun und
rannte über die Düne zum Strand. Verlor das Gleichgewicht und sank
mit einem Knie auf den Boden. Richtete mich wieder auf und raste in
die Richtung, aus der ich die Schüsse gehört hatte.
Ich blieb stehen.
Zwei Männer lagen mit dem Gesicht nach oben im Sand. Mein Herz
raste. Ich rannte zu ihnen, schlitterte im Sand, der mit rotem Blut
durchtränkt war.
Du gütiger Himmel, nein!
Manny war tot, Ed Sinclair mit einer Schusswunde in der Brust
gurgelte Blut.
Dominic Cavello war fünfzig Meter weiter vorn, presste eine Hand
gegen seine verwundete Schulter, gab aber nicht auf.
»Manny und Ed sind erledigt!«, rief ich ins Mikrofon. »Holt sofort
Hilfe!«
Cavello rannte auf seinen Hubschrauber zu. Die Kabinentür stand
bereits offen. Ich nahm die Verfolgung wieder auf.
»Cavello, stehen bleiben!«, rief ich. »Sonst schieße
ich!«
Cavello blickte über seine Schulter, lief aber weiter. Zweimal
drückte ich ab. Die zweite Kugel traf ihn in den
Oberschenkel.
Der Pate griff nach seinem Bein und knickte ein, aber bewegte sich
weiter, zog sein Bein nach wie ein verzweifeltes Tier, das nicht
aufgeben wollte. Ich hörte das Schlagen von Rotoren – und endlich
kam der Hubschrauber der Küstenwache in Sicht.
»Das war’s!«, rief ich Cavello zu und zielte wieder mit meiner
Glock auf ihn. »Du bist erledigt! Der nächste Schuss landet in
deinem Kopf.«
Cavello blieb erschöpft stehen, hob die Hände und drehte sich
langsam um.
Er hatte keine Waffe. Ich wusste nicht, wohin er sie geworfen
hatte, vielleicht ins Meer. Er war nahe genug am Wasser gewesen.
Trotz der Kugeln in Schulter und Oberschenkel verzog er sein
Gesicht zu einem Grinsen.
»Nicky Smiles«, sagte er. »Hätte ich gewusst, dass du auf die
Hochzeit meiner Nichte kommen wolltest, hättest du nur zu fragen
brauchen. Ich hätte dir eine Einladung geschickt. Mit
Widmung.«
Ich hatte das Gefühl, als würde mein Kopf platzen. Wegen diesem
Schwein hatte ich zwei, vielleicht drei Männer verloren. Ich trat
auf Cavello zu, meine Glock auf seine Brust gerichtet. Er erwiderte
meinen Blick mit einem spöttischen Lächeln. »Weißt du, Pellisante,
das Problem bei italienischen Hochzeiten ist, dass jeder eine Waffe
mit sich herumträgt.«
Ich verpasste Cavello einen Schlag. Er fiel auf ein Knie, und eine
Sekunde lang dachte ich, er würde kämpfen wollen, aber er stand nur
kopfschüttelnd auf und lachte.
Also schlug ich noch mal zu, mit aller Kraft, die mir geblieben
war.
Diesmal blieb er unten.